Eisenbahnvirus

Bahnhofsgeschichten oder "Wie Siegmar vom Eisenbahn-Virus infiziert wurde..."

Leider wurde ich vom Klapperstorch mit einer Verspätung von 3 Jahren und ca. 4 Monaten in der Augustastraße 73 in Hagen (Westf.) abgeliefert...
Durch diese Verzögerungen im Betriebsablauf lernte ich leider nicht mehr das Quietschen der Wagen der Linie 9 der Hagener Straßenbahn AG kennen, wenn sie von der Augustastraße in die Bachstraße abbogen. An der Ecke beim Frisör Müller vorbei, die leichte Steigung am Milchgeschäft Rose entlang, bis zur Kreuzung mit der Linie 8 auf der Lange Straße. Dort wo der Kohlenhändler Fritz Grote, die Weinhandlung Sybille Schmitz, der Bäcker Kabs und der Fleischer Kürsch den Wehringhausern ihre Waren anboten.

Die Augustastraße 73 bot einen direkten Blick auf die Einfahrt in den Hagener Hauptbahnhof. Hier kamen die Züge der Bergisch-Märkischen Strecke aus Richtung Wuppertal bei Hp 00 mit einem melodischen Kreischen der Bremsklötze zum vollständigen Stillstand. Hier brummten die Diesel mit V 100 von und zur Volmetalstrecke Richtung Goldbergtunnel. Beim Überfahren der Verbindungsweiche vom Gütergleis klapperten die Gläser im Schrank.
212 263-8 fährt im Februar 1976 mit einem Wendezug in Richtung Lüdenscheid. Im Hintergrund ist der Werbeschriftzug der Marzipanfabrik Grothe, die für ihre Marzipan-"Baumstämme" berühmt war, zu erkennen.
Im Alter von wenigen Jahren, nahm ich die Eisenbahn zum ersten Mal bewusst wahr. In einer Zeit ohne Smartphones, Laptops, Spielekonsolen usw. gab es die Freizeitbeschäftigung „aus dem Fenster gucken“. Auf der Fensterbank sitzend beobachtete ich viele Bauarbeiter, die mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt waren. Es war wohl die große Elektrifizierungsaktion. Abschätzig wurden die eingesetzten Gastarbeiter, wohl damals meist aus Italien, von vielen Erwachsenen als „Itakas“ bezeichnet. Mangels anderweitig für mich damals logischer Assoziationen waren dies für mich die „Mittags“.

Mit zunehmendem Alter zog es mich näher an die Eisenbahn. Ich verbrachte mit meinem Schul- und Eisenbahnfreund Martin viele Stunden „am Zaun“, um dem Treiben auf den Strecken zuzuschauen. Später kam hier noch Klaus hinzu, der inzwischen ebenfalls zu unseren Altherren-Eisenbahnfreunden gehört. 

Es gibt Bilder von Zuschauern an diesem Zaun (wohl nicht nur Eisenbahnfreunden), die die Vorbeifahrt des Schienenzeppelins in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts bestaunten. Ich kann mich selbst noch an eine Menge Menschen erinnern, die schweigend auf den Zug warteten, mit dem die sterblichen Überreste des ehemaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke ( + 06. April 1972) in seine Heimat ins Sauerland überführt wurden.
Um den Zügen noch näher zu kommen, zog es uns dann Richtung Hagen Hbf. In den Schulferien ging es meistens über die Phillipshöhe zum Bahnhof. 
Um jedoch an die Bahnsteiggleise zu gelangen, musste erste eine Bahnsteigkarte gekauft werden. Entweder am Schalter oder am Automaten. Diese wurde an der Bahnsteigsperre von penibel prüfenden Beamten kontrolliert und beim Verlassen der Bahnsteige meistens wieder eingesammelt. Hier ein paar Exemplare, die wir nach entsprechendem "Betteln" wieder zurückbekamen:
Mit einer "Fotoklick-Kamera" habe ich die ersten Eisenbahnbilder auf Kassettenfilm aufgenommen, wie z. B. im Herbst 1969 das Bild eines der letzten planmäßig mit Dampflok bespannten Reisezüge, hier mit 023 014-4 vor der Ausfahrt auf die Obere Ruhrtalbahn in Richtung Warburg.

Das Angebot eines damaligen Dampflokführers, doch mal auf den Führerstand zu kommen, trauten wir uns damals nicht anzunehmen. Später haben wir dies bereut.
Die Lokführer waren den Eisenbahnfreunden oft aufgeschlossen. So bekamen wir an einem knackekalten Februartag des Jahres 1970 von einem 103-Lokführer einen "abgelaufenen" Vorsichtsbefehl überlassen.
Im September 1974 begann dann mein Spiegelreflex-Zeitalter. Aus finanziellen Gründen nur mit einer bescheidenen Ausrüstung von Foto Porst. Aus chronischem Geldmangel wurden meistens nicht die besten Farbnegativ- und später Farbdiafilme gekauft. Dies führte leider nicht immer zu den optimalsten Ergebnissen.

Ich habe 103 228-3 des Bw Hamburg-Eidelstedt vor IC Nymphenburg nach Hannover im Hagener Hauptbahnhof  auf meinem ersten Spiegelreflex-Foto verewigt.
Die Bezeichnung der Tageszeiten richtete sich damals (vor Einführung des Taktverkehrs) nach den Endbestimmungen regelmäßig verkehrender Fernverkehrszüge: 
  1. Der Leipziger um kurz vor Sieben  - höchste Zeit zum Aufstehen zur ersten Stunde in der Schule.

  2. Der Münchner mit Kurswagen nach Garmisch oder Mittenwald gegen Viertel nach Acht - es sind Ferien oder es geht los zur 2. Stunde in die Schule.

  3. Der Norddeicher - kurz vor Halb Zehn - auf dem Bahnsteig/es sind Ferien.

  4. Der Aalborger - kurz vor Halb Elf - auf dem Bahnsteig/es sind Ferien.

  5. Der Regensburger mit Kurswagen nach Hof - Viertel nach Eins - es sind Ferien oder die Schule ging nicht bis zur letzten Stunde.

  6. Der Basler - Viertel nach Zwei - Hausaufgaben sind schon lange (oder gar nicht) fertig.

  7. Der Zwickauer (mit Reichsbahnwagen) - Zwanzig vor Elf - es ist eigentlich schon lange Zeit schlafen zu gehen.
Hier der Abfahrtsplan für den Sommerfahrplan 1974 Hagen Hbf:
Auch die Jahreszeiten waren zum Teil an Eisenbahnfahrzeugen ablesbar. Ging ich in der Vorweihnachtszeit nach der Schule an Samstagen gegen Halb Zwölf oder Eins die Bachstraße herunter, stand oft der Postzug wartend in der Einfahrt. An den Postwagen waren oft von Hand Schriftzüge "Frohe Weihnachten" und kunstvolle Zeichnungen von Tannenästen mit Kerzen angemalt. Kein Graffiti und auch keine Werbelackierung.
Der Eisenbahn-Virus war eingepflanzt, hatte sich festgesetzt und konnte bisher durch keinerlei Therapie entfernt werden. 
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